Verrückt nach Kalle – Mein Therapiehund und ich
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Der Moment der Begrüßung ist immer das Allerallerschönste: Ich gehe in das Zentrum meines Betreuten Wohnens und Kalle, der Therapiehund bemerkt mich sofort. Gleichgültig, ob er alleine mit seinem geliebten Ball spielt oder gerade selig in einer Ecke vor sich hindöst – er hört mich, er riecht mich, er sieht mich und springt sofort auf , lässt alles liegen und stehen und kommt freudig erregt auf mich zugeschossen.
Jeden Morgen haut mich das von neuem um. Soviel geballte Lebensfreude, soviel Energie, so eine warme und kommunikative Art der Begrüßung. Also ehrlich, ich kenne nicht viele Menschen, die bei meinem Anblick derart ausflippen. Aber Kalle wedelt noch ein paar Minuten lang heftig mit dem Schwanz und führt mich dann bestimmt zum Objekt seiner Hundebegierde: Einem alten, abgelutschtem Tennisball. Da er es kaum erwarten kann, bis es endlich zum Spielen abgeht, prescht er ungeduldig vor, bleibt aber immer wieder stehen, dreht sich nach mir um, um sich zu vergewissern, dass ich auch wirklich nachkomme.
Manchmal fragen mich Freunde ganz entgeistert: “Sag´ mal, was zum Teufel machst Du denn Tag für Tag eine ganze lange Stunde mit einem Therapiehund?“ Das klänge doch stinklangweilig wie einfaches Gassi gehen mit nass-kalten Füßen. Aber da Kalle ein ganz außergewöhnlicher Hund ist, stimmt das einfach nicht.
Zusammen Spaß haben
Ich werfe nicht einfach seinen Ball in die Luft und er fängt ihn erwartungsgemäß auf, sondern ständig denken wir uns neue Spiele aus. Zum Beispiel sage ich streng zu Kalle „Bleib´“, dann legt er sich solange hin, bis ich den Ball verstecke. Also unter einem Haufen Laub, hinter einer Hecke oder in meiner Handtasche. Gestern drapierte ich den Ball auf Schulterhöhe auf einem Busch, also eine ganz gemeine Prüfung für Kalle. Sobald ich ihm jetzt den Befehl „Such´“ gebe, kommt er mit Karacho angerast. Immer seine Schnauze auf dem Boden, um die Spur des Balles nicht zu verlieren. Normalerweise schafft er das ziemlich zügig und freut sich dann wie blöd, dass er die Herausforderung so gut gemeistert hat. Gestern zog es ihn zwar zum Busch hin, aber er konnte – die Nase knapp über der Erde – die genaue Position des Balles nicht erschnüffeln. Nervös umkreiste er das Gebüsch und sah sich immer wieder nach mir um, ob ich ihm nicht einen Tipp geben könnte. Als er den Ball endlich entdeckt hatte, stand er vor dem nächsten Problem: Ich hatte den Ball so hoch oben versteckt, dass er auch nicht rankam, als er sich auf die Hinterpfoten stellte. Da ich ihn noch eine Zeitlang alleine zappeln lassen wollte, wurde Kalle so wütend, dass er immer wieder gegen den Busch lief. Und siehe da, der Ball fiel eine Etage tiefer, in seine Reichweite. Bravo Kalle!
In unserem Zentrum ist Kalle der unumstrittene Star. Jeder beobachtet ihn beim Fressen, sorgt sich um ihn, wenn seine Pfote verletzt ist, lacht sich halbtot, wenn er mal wieder derart lebhaft mit dem Schwanz wedelt, dass er glatt eine volle Kaffeetasse vom Tisch wedelt. Hat sein Herrchen, der Ergotherapeut Carsten Offt seinen freien Tag, fragen wir Klienten nicht etwa, wann dieser wieder kommt. Nein, wir fragen, wann Kalle endlich wieder zum Dienst erscheint. Gemein, was ? Und ganz schlimm ist es, wenn die beiden Urlaub haben. Dann ist irgendwie die Luft raus bei uns.
Therapeutische Wirkung
Auch wenn Kalle unser aller Liebling ist, nicht alle sind so verrückt nach ihm wie ich. Die Depressiven können sich oft nicht aufraffen, mit ihm um den Block zu ziehen und die Psychotiker meinen, das wäre alles zu verwirrend. Mir soll es recht sein, so habe ich Kalle draußen meist für mich alleine. Und bei mir bewirkt er wahre Wunder. Ich ziehe mit Kalle los, um an der frischen Luft und in Bewegung zu sein. Ich merke, wie ich Glückshormone ausschütte, wenn ich Kalle nach dem Wochenende wiedersehe. Es tut mir gut, dass ich für Kalle einen kleinen Teil der Verantwortung trage. Und ich konnte meine Medikamente auf ein Minimum reduzieren. Denn Kalle erdet mich.
Wenn ich etwa völlig aufgewühlt bin, weil ich im Briefkasten mal wieder einen Brief von der Behörde vorfinde, die mich auffordert die – gefühlt – 217. Unterlage einzureichen, damit ich die lumpigen 399 € zum Lebensunterhalt überwiesen bekomme, dann KÖNNTE ICH AUSRASTEN. Soviel Bürokratie, soviel Misstrauen, soviel Kontrollmechanismen. Die Reichen werden hierzulande immer reicher, und selbst die, die nachweislich gar nicht arbeiten können, dürfen sich nur die Brotsamen teilen.
An solchen Tagen schnappe ich mir Kalle, ziehe mit ihm solange laut schimpfend umher, bis ich mich wieder eingerenkt habe. Umgekehrt ist es aber genauso: Habe ich mir ein neues Kleidungsstück gegönnt, eine tolle Einladung zu einer Vernissage bekommen oder sogar abgenommen, dann könnte ich gleich ausflippen vor Begeisterung. Auch dann brauche ich meine Kalle-Therapie vormittags und nachmittags um nicht abzuheben. Nur einmal war ich richtig sauer auf unseren Therapiehund. Draußen herrschten Minusgrade, die Straßen und Gehwege waren mit dickem Glatteis überzogen und ich hatte Schuhe mit rutschigen Sohlen an. Kalle, der es wie immer kaum erwarten konnte, bis wir endlich an unserer Spielwiese angelangten, zog mich an der Leine wie einen Schlitten hinter sich her, bis die umstehenden Passanten brüllten vor Lachen. Mann, war ich sauer.
Mit Herrn Offt, seinem Herrchen, lehrten wir ihn dann, dass er langsamer gehen muss, sobald er den Befehl „Leine“ hört. Um das pädagogisch richtig einzuüben, bekam er jedes Mal ein Leckerli, wenn er brav gehorcht hat. Noch heute dreht er sich manchmal um und sucht meine Hände nach Hundesüßigkeiten ab, sobald er nur mit dem ungeduldigen Ziehen aufhört. Dieser Schlawiner!
Ich bin vor fünf Jahren, buchstäblich über Nacht, an einer Form der Schizophrenie erkrankt. Meine Gedanken liefen Amok, ich konnte mich kaum jemandem anvertrauen und habe fast meine Sprache verloren. Da kommt mir meine Freundschaft mit Kalle gerade Recht: Kein erzwungener Small-Talk, keine tiefschürfenden Diskussionen, keine anstrengende Schilderung all meiner Symptome. Mit Kalle verstehe ich mich wortlos. Wenn es Sommer und brüllend heiß ist, reduzieren wir unsere Ball-Werf –Spiele auf ein Minimum und setzen uns nebeneinander ins Gras. Ich zerrupfe dann versonnen ein Gänseblümchen, er nagt genüsslich an einem herab fallenden Ast, und wir sind beide mit Gott und der Welt zufrieden.
Freundschaft pflegen
Einmal habe ich unser Paradies in Gefahr gesehen. Das Gelände einer alten Kalenderfabrik, auf der wir uns immer zusammen rumtreiben, gehört einem älteren Herrn, der plötzlich ein Loch in seiner Wiese entdeckte. Prompt kam er ins Zentrum gerauscht, und fragte die Betreuer, ob das Kalle und ich verbrochen hätten. In der Tat hatte Kalle, entweder weil er wilde Kaninchen gerochen hatte, oder weil ihm Rumbuddeln in der feuchten Erde per se gefällt, ein Loch gegraben. Hätte ich ihn davon etwa abhalten sollen? Er hat seine Schnauze immer tiefer in den Boden gewühlt, sah dabei so niedlich aus, wie seine völlig verdreckten Barthaare abstanden, dass auch ich meine helle Freude daran hatte. Dann war aber Schluss mit lustig. Um die Basis unserer Freundschaft zu erhalten, musste ich zähneknirschend einen Sack Erde ranschaffen um die Wiese wieder zu ebenen und träume jetzt davon, dass uns Kalle´s Herrchen in den benachbarten Stadtwald gehen lässt. Dort könnten wir rum sauen wie wir wollen und würden sicher auch spannende Abenteuer mit anderen Hunden erleben.
Bislang gibt es nämlich nur schräg gegenüber einen gebrechlichen, alten Schäferhund, der den ganzen Tag hysterisch vor sich hin kläfft und auf seine alten Tage noch mal völlig durchdreht, sobald er Kalle nur sieht. Kalle hingegen ist jung, schön und dynamisch. Noch Fragen? Kalle tut das einzig richtige und ignoriert ihn einfach. Meiner Schwester habe ich oft von Kalle erzählt. Auch wenn sie sich freute, dass es mir immer besser ging, hatte sie wohl das Gefühl, ich übertriebe ein wenig in meiner Begeisterung für ihn. Bis sie mich diesen Sommer mit ihrer Familie in Hamburg besuchte. Kalle hat ein ganz helles Fell, einen athletischen Körper und ein richtiges Babygesicht. Wir trafen auf ihn, als er im Büro seines Herrchens friedlich schlief. Durch die Glasscheibe rief ich seinen Namen und sofort stellte er seine niedlichen Schlappohren auf, straffte seinen Körper und rannte los zur Eingangstür. Dort brachte er sich in Ausgehposition und selbst meine Schwester, die sonst eine grauenhafte Angst vor Hunden hat, flippte aus. „Mann ist der niedlich“, rief sie und traute sich das erste Mal seit Jahren wieder, einen Hund zu streicheln. In ihrer Euphorie übertrieb sie es mit dem Kraulen aber dermaßen, dass Kalle unerwartet zu knurren begann. Ich denke mal, es war ein Warnschuss von Kalle, denn kurz zuvor hatte im Zentrum eine Mitgliederversammlung begonnen, und die Leute waren hektisch rein und raus gelaufen. Heute weiß ich, ich hätte meine Schwester ein wenig abbremsen sollen, so dass der Hund sie in aller Ruhe hätte beschnuppern können. Wie auch immer, als die Aufregung wieder vorbei war, konnten mein Schwager und ich nicht mehr mit dem Kichern aufhören. Wenn Kalle nämlich mit einem Spielzeug in der Schnauze ums Eck gebogen kommt, alle Leute gleichermaßen ruhig und freundlich begrüßt, fühlt man sich als hätte der Dalai Lama von Hamburg-Wandsbek das Zimmer betreten, so friedlich ist dieser Hund.
Goldendoodle mit Therapieausbildung



Geboren wurde er übrigens am 17.4.2011 und kam schon wenige Wochen danach zu uns. Er ist eine Kreuzung aus einem Golden Retriever und einem Königspudel, man nennt das einen Goldendoodle und seine Ausbildung zum Therapiehund dauerte ein Jahr. Und ich? Ich bin heute 50 Jahre alt und hatte nach meinem Studium 20 Jahre als Freie Journalistin gearbeitet. Nachdem meine Erkrankung ziemlich heftig ausgebrochen war, konnte ich leider nicht mehr wirklich in meinem Beruf tätig sein. Wozu also noch irgendetwas schreiben? Aber heute, nach einem wunderschönen Tag mit Kalle habe ich mich das allerallererste Mal wieder an meinen Schreibtisch getraut. Wie kann da nur irgendjemand behaupten, Kalle wäre „einfach nur ein Hund mehr auf dieser Welt“?
T.R.